Rezension zu Und es schmilzt von Lize Spit
Mit geschlossenen Augen hätte Eva damals den Weg zu Pims Bauernhof radeln können. Sie könnte es heute noch, obwohl sie viele Jahre nicht in Bovenmeer gewesen ist. Hier wurde sie zwischen Rapsfeldern und Pferdekoppeln erwachsen. Hier liegt auch die Wurzel all ihrer aufgestauten Traurigkeit.
Dreizehn Jahre nach dem Sommer, an den sie nie wieder zu denken wagte, kehrt Eva zurück in ihr Dorf – mit einem großen Eisblock im Kofferraum.
Und es schmilzt
Eva bekommt eine Einladung zu einem Einweihungsfest in ihrem Heimatdorf - ein Auslöser, der all die Erinnerungen wieder aufleben lässt, die sie mit scheinbar kühler Distanz in all den Jahren in sich getragen hat. Diese Gefühlskälte spiegelt sich im Titel und auch in der Erzählweise wieder und zeigt überaus deutlich, wie distanziert die Protagonistin alles betrachen muss, um von der Flut der Gefühle nicht weggespült zu werden.
Während man ihrem Weg nach Bovenmeer folgt, erzählt sie in der Ich-Perspektive aus ihrer Vergangenheit, ihrer Kindheit und ihrer Jugend in dieser scheinbaren "Dorf Idylle", bis hin zu dem verhängnisvollen Sommer im Jahr 2002. Dabei bleibt sie stets in einem nüchternen, unaufgeregten Stil, als wäre sie eher Beobachterin als Teilnehmerin. Allerdings merkt man schon zu Beginn, das etwas gehörig schief gelaufen ist und sich in ihrem Bericht aus der Vergangenheit etwas anbahnt, das ihr Leben für immer zerrüttet hat.
Ich habe in einigen Rezensionen gelesen, dass diese Geschichte unnütz sei, zu brutal, zu offen - und wofür es gut sein soll, sowas zu veröffentlichen. Für manche mögen diese Einblicke ein Horrorszenario sein, für andere sind sie aber "Normalität". Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Menschen solche oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben und damit irgendwie weiter- und überleben müssen. Es soll schockieren, natürlich, und es soll aufmerksam machen auf die vielen, im Herzen einsamen Seelen, die leiden und keine Chance sehen, auf ihren zerrüttenden Trümmern ihrer Vergangenheit ein "gutes" Leben aufzubauen.
Evas Kindheit ist geprägt davon, dass sie sich nirgends zugehörig fühlt. Von den alkoholabhängigen Eltern nicht angenommen, von den Geschwistern auch nicht so recht wahrgenommen, klammert sie sich an die einzigen Menschen, die ihr zur Verfügung stehen: Pim und Laurens, zwei Jungs, die als einzige in dem kleinen Dorf in ihrem Alter sind und mit denen sie zumindest eine Art von Freundschaft verbindet. Sie ist gefangen in einer Abhängigkeit, einen Halt zu finden, doch entwickelt sich ihre Rolle in dem Dreiergespann in der Pupertät zu einer Art Zuschauer. Ihre verzweifelte Suche nach Akzeptanz und ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit lassen sie Entscheidungen treffen, die aus einem "Spiel" bitteren Ernst werden lassen und zu einer grauenvollen Tragödie führen.
Durch den nüchternen Erzählstil konnte ich auf gewisse Weise Abstand halten. Vieles ist nur zwischen den Zeilen zu erkennen, manches aber auch in deutlichen Worten und einer emotionslosen Tragik, die erst nach und nach ihre Wirkung entfaltet. Man weiß aber, dass einem noch etwas schreckliches bevorstehen wird, man wartet geradezu auf diesen Moment, der einem dann wirklich den Boden unter den Füßen wegzieht.
Es gibt explizite Details von Gewalt, der man sich vor dem Lesen klar sein sollte und die mir grade durch die rationale Beschreibung umso mehr unter die Haut ging. Diese Bilder werden einem wohl längere Zeit nicht mehr loslassen.
Die Details, die hier schockieren, sind auf jeden Fall heftig, aber anscheinend war es für die Autorin nötig, es in dieser Form aufs Papier zu bringen. Warum, diese Fragen werden wir nicht ergründen können, ich kann nur hoffen, dass sie auf keine eigenen Erfahrungen zurückgegriffen hat.
Den Schutz, den Eva um sich aufgebaut hat, die "eingefrorenen" Gefühle, die sie nicht an sich herankommen lassen kann, schmelzen dahin wie der Eisblock, den sie im Kofferraum bei sich hat. Er scheint ihr einziger Ausweg, um ein für allemal mit der Vergangenheit abzuschließen und abzurechnen; für all ihre Hilflosigkeit und Einsamkeit ein Ende zu finden und endlich Gehör zu bekommen.
Eine unendlich traurige, bittere Geschichte, die eine ungeschönte Realität zeigt, die ungern wahrgenommen wird. Eine "Sterne" Bewertung ist hier echt schwer, denn der Stil verlangt Durchhaltevermögen und ein dickes Fell - aber für den Mut, die Eindringlichkeit und Offenheit muss ich 5 Sterne vergeben.
Leo ist seit zehn Jahren mit Simon zusammen. Er ist der wichtigste Mensch
in ihrem Leben, und viele andere sind da auch nicht. Eines Nachts kommt
Simon wie ausgewechselt nach Hause, völlig überdreht, mit neuer Tätowierung,
neuen Freunden, neuen Zukunftsplänen. Er schläft immer weniger und wird
zunehmend paranoid. Eine manische Episode hat Leos große Liebe fest im
Griff. Als sie begreift, wozu Simon jetzt fähig ist, ist es vielleicht zu
spät. Zu lange hat Leo alles für ihn aufs Spiel gesetzt. Nun bleiben ihr
genau elf Minuten, um eine Tragödie zu verhindern, die nicht nur ihr Leben
für immer verändern würde.
Ein Roman über eine junge Frau, die
zusehen muss, wie ihre große Liebe von einer psychischen Krankheit geradezu
verschlungen wird.
Hallo Aleshanee,
AntwortenLöschenes hat mich jetzt etwas gewundert, dass Du auch solche Bücher liest. Das ist manhcmal das Problem, dass man als Leser vorher nicht wirklich weiß, wie explizit die Gewaltdarstellung sein wird und was einen erwartet. Die FSK-Empfehlung für Bücher wird ja immer wieder mal diskutiert und bei solchen Werken sicherlich nicht verkehrt ... ;)
Viele Grüße
Frank
Solche Bücher lese ich auch extrem selten ... aber manchmal kommt eben auch so eins dazwischen. Das ist einfach eine "Bauchgefühl" Sache und das hat mich einfach gereizt zu lesen.
LöschenDa ich dazu schon einige Rezensionen gelesen hatte, wusste ich, auf was ich mich einlasse. Wieweit es einen dann mitnimmt beim lesen ist sehr unterschiedlich und kann man nie vorher wissen und ist auch grade bei diesem Buch exterm speziell.
Eine Altersfreigabe ... naja, es ist nicht als "Jugendbuch" deklariert, also ist es ein Erwachsenenbuch. Zumindest sehe ich das so. Aber auch nicht jeder Erwachsene kann alles lesen.
In der Beziehung denke ich immer an meine Jugend und ich hab mit 13 oder so angefangen Stephen King zu lesen und auch andere "Horror" Bücher und da waren auch schon echt krasse Sachen dabei. Ich hab mir damals als Jugendliche aber ehrlich gesagt nix dabei gedacht.
Ja, ich weiß, es gibt da immer Für und Wider in dieser Diskussion, aber ein Hinweis auf eine explizite Gewaltdarstellung fänd ich schon hilfreich, vor allem, wenn ich als Leser solche Beschreibungen nicht erwarte...
LöschenDas stimmt natürlich, wobei ich persönlich es jetzt nicht bräuchte. Aber durch die vielen Auslöser, die solche Geschichten haben, wäre es für viele andere sicher nötig.
LöschenHallo Aleshanee,
AntwortenLöschennee, die Welt ist schon brutal und grausam, aber für meinen Geschmack muss ich mir dazu kein Buch kaufen um dies auch noch lesen zu wollen...
Entschuldigung muss ich mir als normale Leserin nicht an tuen...
Schönen Sonntag..LG..Karin..
Das mach ich normalerweise auch nicht - ich lese sowas ja so gut wie nie.
LöschenWarum mich das Buch gereizt hat, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht. Aber manchmal ist das eben so.
Ich denke mir auch: ich weiß wie schlimm es zugeht und muss nicht auch noch darüber lesen, aber manchmal denke ich mir auch, ich muss hinschauen, damit es mir wieder bewusst wird.
Liebe Aleshanee
AntwortenLöschenIch fand das Buch grandios, wenn auch leider das Ende so vorhersehbar war, irgendwie bin ich nämlich dem Rätsel bei der ersten Erwähnung des Eisblocks auf die Schliche gekommen, was natürlich das Lesevergnügen ein wenig geschmälert hat, obwohl man hier ja eigentlich nicht von "Vergnügen" sprechen kann.
Ich habe den Schreibstil sehr gemocht und war beeindruckt von den verschiedenen zwischenmenschlichen Beziehungen, die dargestellt worden sind und von der nüchternen Art, wie auf die Verhältnisse in dieser ländlichen Gegend hingewiesen worden ist. Dieses Buch schockiert ja nicht einfach, ich denke, es will nicht vor den Kopf stossen oder irgendwelche kranken Fantasien befriedigen. Es will aufzeigen, wie der Alltag innerhalb einer wegschauenenden Gesellschaft sein kann und auch zeigen, wie das Leben für einige Menschen - leider - effektiv ist. Es appelliert somit daran, nicht wegzusehen. Spannenderweise hat die Autorin auf eine Leserfrage zur entscheidenden Szene einmal gesagt, sie hätte die Szene nicht von aussen beleuchten, sondern wirklich ganz nahe bei der Protagonistin sein wollen um diese durch die Szene zu begleiten, weshalb dann aber auch entsprechend detaillierter erzählt worden ist. Fand ich sehr spannend...
Ganz liebe Grüsse
Livia
Und ich war zum Glück so doof und bin nicht drauf gekommen, obwohl (!!!) ich das Rätsel sogar kenne! Aber in dem Zusammenhang, irgendwas hat da blockiert. In dem Fall war das ja auch okay, so hab ich mir die "Überraschung" nicht kaputt gemacht.
LöschenGenauso seh ich das auch! Diese "kranken Fantasien" sind eben Realität, für viele Menschen und ebenso viele wachsen in einem kranken Umfeld auf und müssen die Folgen davon ihr Leben lang mit sich tragen.
Diese "Szene", also ich hoffe wirklich dass die Autorin "einfach nur" extrem empathisch empfinden und schreiben kann. Ganz nahe bei der Protagonistin sein wollen, das stelle ich mir hier wirklich extrem schwierig vor und dafür hat sie definitiv meinen Respekt. Es ist weder schön noch einfach zu lesen und ich muss sowas auch nicht dauernd lesen - aber um es sich in Erinnerung zu rufen, die eigene Empathie zu fördern, das hinschauen, das Zuwenden vor allem auch an die Kinder, das ist das was ich mir davon definitiv mitnehme.
Man sieht hier einfach sehr deutlich wie sehr Kinder leiden, ohne dass es irgendjemandem auffällt - bzw. wie darüber hinweggegangen wird.
Hallo,
AntwortenLöscheneine sehr schöne Rezi.
Ich habe das Buch vor längerer Zeit gelesen, war schockiert von der Gewalt und begeistert vom Schreibstil.
Ein Punkt, der mir sehr im Kopf geblieben ist: dieses Vertuschen von Gräueltaten. Hier wird alles unter den Tisch gekehrt. Das ist bequemer, das wahrt das gute Bild.
Wie hoch ist die Dunkelziffer von sexualisierter Gewalt? Um darauf aufmerksam zu machen, braucht es Bücher wie diese. Keine Romane, die ebenfalls verharmlosen.
Liebe Grüße,
Nanni
Dankeschön, einfach das Buch zu beschreiben war es nicht.
LöschenDas Vertuschen muss meist ja gar nicht sein, es reicht wenn man es nicht wahrnimmt oder oft auch nicht wahr nehmen will. Das hört man ja auch raus wenn es heißt, warum sowas in der Art geschrieben werden muss. Klar, will man sowas nicht lesen, aber es passiert ganz vielen Menschen und die müssen damit leben.
Ich will jetzt das natürlich auch nicht in jedem Buch lesen, aber es rüttelt auf, löst Diskussionen aus und macht vielleicht doch auf feinfühliger und aufmerksamer.
Es muss ja auch nicht so etwas krasses sein, alleine schon die Familiensituation an sich war ja schon schlimm genug. Und auch da wurde nicht hingesehen.
Dieses Buch war eines meiner absoluten Lieblinge aus 2017. Ich freue mich gerade sehr, dass du es auch so hoch bewertest, obwohl dir das Lesen, aufgrund der expliziten Gewaltdarstellung, sicherlich oft schwer gefallen ist. Falls du irgendwann nochmal solch steinigen Weg gehen möchtest, kann ich dir "Was man sät" empfehlen. Ähnlich hart, ähnliche Thematik, aber wesentlich kürzer und genauso intensiv.
AntwortenLöschenSchwer gefallen ist es mir nicht, aber es ist natürlich nicht schön, und trotz allem beklemmend, so etwas zu lesen.
LöschenNochmal etwas in der Art, ich glaube nicht, dass ich das möchte. Ich weiß ja nicht mal, warum ich dieses hier gelesen habe ... das kommt ganz drauf an wie ich mich grade fühle und ob ich grade so eine Geschichte "brauche". Aber danke für den Tipp!
Hallo Aleshanee,
AntwortenLöschenwow, du hast es in perfekte Worte gepackt und obwohl es schon einige Zeit her ist, habe ich es immer noch in Erinnerung. Die Geschichte hat mich fast körperlich geschmerzt aber es war trotzdem kein negatives Empfinden. Du schreibst es ist traurig, bitter und ungeschönt und genau das unterschreibe ich so. Die Darstellungen gingen echt unter die Haut. Großartig beschrieben von dir. Liebe Grüße, Kerstin
Ganz herzlichen Dank liebe Kerstin! Das war kein einfaches Buch und auch nicht leicht, meine Meinung dazu in Worte zu fassen. Freut mich wenn es so ankommt, wie ich es empfunden habe.
LöschenHallo liebe Aleshanee,
AntwortenLöscheneine sehr schön geschriebene Rezension zu einem Buch, das extrem heftig klingt! Ich habe das Gefühl, du hast einen ziemlich guten Einduck von der Geschichte gegeben, ohne viel über den Inhalt verraten zu haben. Kompliment dafür. ;)
Ich wünsche dir eine schöne Woche!
Liebe Grüße
Dana
Dankeschön Dana!
LöschenJa, die Geschichte ist auf erst subtile Weise und dann auf sehr schockiernde Weise heftig.
Das wünsch ich dir auch :)
Guten Morgen Aleshanee,
AntwortenLöscheneine sehr gelungene Rezension hast du hier geschrieben - ohne zu viel zu verraten, gibst du doch genug Hinweise, dass es in dem Buch sehr heftig zugeht. Und natürlich habe ich mich in einigen deiner Abschnitte auch wiedergefunden. ;-)
Ich kann deine Argumente, ein solches Buch zu schreiben, durchaus nachvollziehen - vielleicht war ich einfach mehr auf "Unterhaltung" eingestellt und deshalb so abgestoßen. So bleibt bei mir leider nur hängen "sehr heftig" und "phantastischer Schreibstil".
Danke für deine Meinung zu diesem Buch.
Liebe Grüße
Sabine
Grade bei Bücher mit diesen Themen ist es wirklich ein äußerst individuelles Empfinden beim Lesen. Wenn man komplett unvorbereitet hier einsteigt, ich weiß nicht wie es dann bei mir gewesen wäre. Durch einige Rezensionen wusste ich ja, dass es nicht leicht sein würde...
LöschenIch kann auch sowas nicht oft lesen, auch wenn ich es wichtig finde, solche Bücher. Weil sie aufrütteln, weil sie sichtbar machen was passiert. Grade auch die vielen "Kleinigkeiten" die sich das ganze Buch durchziehen, die so am Rande erwähnt werden und zwischen den Zeilen. Das ist ja alles sehr beklemmend, sehr traurig und sicher leider allzu häufig Realität.
Ich kann da zum Glück auch meist einen gewissen Abstand waren, es kommt eben drauf an (auf einen persönlich, also den Leser) wie man was aufnimmt und fühlt.
Ich fand es einfach nur unglaublich wie die Autorin das alles so zusammen gebracht hat, diese Intensität und gleichzeitig die Distanz - und das gesamte dann mit dem bitteren Schluss ... da hat sie wirklich meinen Respekt.
Vielen Dank, Sabine!