1972, Black River Falls, Wisconsin: Alicia Western, zwanzig Jahre alt, lässt
sich mit vierzigtausend Dollar in einer Plastiktüte und einem manifesten
Todeswunsch in die Psychiatrie einweisen. Die Diagnose der genialen jungen
Mathematikerin und virtuosen Violinistin: paranoide Schizophrenie. Über
ihren Bruder Bobby spricht sie nicht. Stattdessen denkt sie über Wahnsinn
nach, über das menschliche Beharren auf einer gemeinsamen Welterfahrung,
über ihre Kindheit, in der ihre Großmutter um sie fürchtete – oder sie
fürchtete?
Alicias Denken kreist um die Schnittstellen zwischen Physik, Philosophie,
Kunst, um das Wesen der Sprache. Und sie ringt mit ihren selbstgerufenen
Geistern, grotesken Chimären, die nur sie sehen und hören kann. Die
Protokolle der Gespräche mit ihrem Psychiater zeigen ein Genie, das an der
Unüberwindbarkeit der Erkenntnisgrenzen wahnsinnig wird, weder im Reich des
Spirituellen noch in einer unmöglichen Liebe Erlösung findet und unsere
Vorstellungen von Gott, Wahrheit und Existenz radikal infrage stellt.
Stella Maris von Cormac McCarthy
Im Original Stella Maris --- übersetzt von Dirk van Gunsteren
Schauplatz Black River Falls, Wisconsin
Verlag Rowohlt --- Seitenzahl 240
1. Auflage November 2022
Meine Meinung
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Nachdem ich von dem Vorgänger "Der Passagier" vor allem höchst verwirrt war,
hatte ich schon Angst, mich hier wieder komplett zwischen den Zeilen zu
verlieren - das ist mir auch wieder passiert, aber dieses Mal im positiven
Sinn.
Alicia Western ist die Schwester von Bobby, aus dessen Sichtweise wir
die Reise im "ersten" Buch "Der Passagier" erleben durften. Alicia lässt sich
1972 freiwillig in die Psychiatrie einweisen. Dieses zweite Buch besteht
rein aus den Dialogen, die sie in sieben Sitzungen mit ihrem Psychiater Dr.
Cohen führt.
Während ich mit Bobby immer am Rand meines Begreifens dahingetrudelt bin,
hatte ich hier unglaublich viele erhellende Momente, die meine Gedanken
aufgerüttelt haben. Die Gespräche drehen sich um unterschiedliche Themen wie
Mathematik (Alicia ist/war ein Mathe Genie), Physik, Musik, Philosophie, die
Welt und unsere Wahrnehmung, die Evolution, die Sprache und ihre
Auswirkungen und einiges mehr - aber natürlich auch um Suizid. Und zwar
teilweise in sehr deutlichem Maße (Trigger).
Wieder hab ich nicht alles verstanden und bei Wörtern wie Tantologie,
Topologie oder Thiotixist musste ich googeln. Einige bekannte Namen tauchen
ebenfalls wieder auf sowie Oppenheimer, Gödel, von Neumann, Wittgenstein
etc. und obwohl ich von ihnen gehört habe, könnte ich jetzt nicht immer mit
allen in Verbindung bringen, welche Theorien und Forschungen mit ihnen
zusammenhängen. Da Alicia mit ihren Ausführungen sehr in die Tiefe der
Mathematik greift, fehlte mir deshalb oft der Bezug - dennoch haben die
Verbindungen zur Physik und schließlich natürlich zur Philosophie immer
wieder meinen Nerv getroffen. Solche Überlegungen finde ich absolut
faszinierend! Einerseits wirken sie von grundauf paradox, andererseits regen
sie so viele Möglichkeiten von Vorstellungen an, dass man glaubt keinen
Platz mehr im Kopf zu haben für all diese Gedanken!
Besonders spannend fand ich die Überlegungen zum Unterbewusstsein. Es findet
ja oft Lösungen, ohne dessen wir uns bewusst sind. Manchmal kommen wir nicht
auf einen bestimmten Namen und was tun wir? Wir beschäftigen uns mit etwas
anderem weil wir sicher glauben, dass es uns dann irgendwann, ganz plötzlich
und unerwartet, einfällt. Aber wie funktioniert das?
Alicia beschreibt das auch mit Lösungen zur Mathematik, die sich ihr
plötzlich aufgetan haben, wie aus dem Nichts. Wie kann das Unterbewusstsein
aber diese Lösung "berechnet" haben? Ohne ihr aktives Zutun? Sozusagen im
Schlaf. Scheinbar...
Hierzu geht sie auch auf die Sprache ein, die evolutionär eigentlich für uns
-zum überleben- verzichtbar gewesen wäre. Können wir deshalb nicht auf unser
Unterbewusstsein zugreifen, weil dieses Konstrukt so alt ist und ohne
Sprache auskommt? Haben wir deshalb die vielen anderen (Überlebens)Instinkte
verloren, weil sie mit der Sprache ins Aus gedrängt wurden?
Ich weiß nicht, ob ich das jetzt so rüberbringen konnte, das ist echt
schwierig und ich kämpfe auch immer noch mit den reichlichen Denkansätzen,
die der Autor hier auf uns losgelassen hat. Trotzdem das meiste nur kurz
angeschnitten wurde war es sehr intensiv und beschäftigt mich nachhaltig. Es
sind alles so grundlegende Fragen über das Leben und unsere Existenz, denen
man sich eigentlich gar nicht verschließen kann.
Nach "Der Passagier" war das hier sowas wie eine Offenbarung. Denn mit Bobby
und seinen irrwitzigen Handlungen, Gedanken und Gesprächen hab ich mich so
schwer getan, während mir hier die zahlreichen Überlegungen zwar kein
einheitliches Muster ergeben haben, aber ich hatte kein farbloses,
trostloses Bild mehr sondern ein wahres Feuerwerk an Farben und Blüten, die
plötzlich aufgehen und mir ein neues Feld voller Möglichkeiten offenbart
haben.
Hat es die Fragen aus Der Passagier für mich geklärt? Nein. Ich hab
Zusammenhänge gefunden, bzw. erahnt und ich könnte mir vorstellen, wie es
eventuell zusammenhängt, aber der Autor hat uns hier komplett freie Hand
gelassen. Zumindest was mich betrifft. Ich bin auf andere Rezensionen
gespannt und welche Zusammenhänge hier verbunden werden - mir war es wohl
dann einfach insgesamt doch zu komplex.
Cormac McCarthy ist für mich ein sehr intelligenter Mensch, auf dessen Ebene
ich nicht heranreiche und dadurch auch vieles nicht nachvollziehen kann. Was
sein Werk aber nicht schmälern soll. Mit Stella Maris hat er mich durch
große Gedankengänge geführt, die mir viele neue Wege aufgezeigt haben, die
ich gedanklich erst noch bereisen muss.
Jedenfalls war es für mich viel spannender als Der Passagier
Auch hier wurden übrigens wieder keine Anführungszeichen benutzt. Da es nur ein
Dialog zwischen zwei Personen war, war es einfacher zu lesen - manchmal kam
ich aber dennoch durcheinander, wer denn jetzt gerade spricht. Eine neue
Zeile heißt hier nämlich nicht immer, dass nun der andere zum reden anfängt
;)
Meine Bewertung
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Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.
Es gab diesbezüglich keinerlei Vorgaben und die Rezension spiegelt meine ganz persönliche Meinung wider.
Der Vorgänger: Der Passagier - meine Rezension
1980, Pass Christian, Mississippi: Bobby Western, Bergungstaucher mit Tiefenangst, stürzt sich ins dunkle Meer und taucht hinab zu einer abgestürzten Jet Star. Im Wrack findet er neun in ihren Sitzen festgeschnallte Leichen. Es fehlen: der Flugschreiber und der zehnte Passagier. Bald mehren sich die Zeichen, dass Western in etwas Größeres geraten ist. Er wird von skrupellosen Männern mit Dienstausweisen verfolgt und heimgesucht von der Erinnerung an seinen Vater, der an der Erfindung der Atombombe beteiligt war, und von der Trauer um seine Schwester, seiner großen Liebe und seinem größten Verderben.
Der Passagier führt – von den geschwätzigen Kneipen New Orleans‘ über die sumpfigen Bayous und die Einsamkeit Idahos bis zu einer verlassenen Ölplattform vor der Küste Floridas – quer durch die mythischen Räume der USA. Ein atemberaubender Roman über Moral und Wissenschaft, das Erbe von Schuld und den Wahnsinn, der das menschliche Bewusstsein ausmacht.
Hallo Aleshanee,
AntwortenLöschendas Buch hat auch schon mein Interesse geweckt - bzw. beide Bücher. "Stella Maris" klingt auf jeden Fall nach einer faszinierenden Lektüre. :)
Liebe Grüße
Marie
Joa, der Passagier war ja nicht so meins... ich bin gespannt was du dann zu den beiden sagst :)
LöschenLiebe Aleshanee
AntwortenLöschenDas klingt schon sehr spannend und ich würde "Der Passagier" auf jeden Fall auch noch gerne lesen. Die Themen klingen schon spannend und was du mit "positiv zwischen den Zeilen verlieren" meinst, gefällt mir sehr gut.
Ganz liebe Grüsse
Livia
Das war auch definitiv sehr spannend!
LöschenBei "Der Passagier" bin ich allerdings raus, das hab ich einfach nicht verstanden... ich konnte auch nicht so wirklich viel aus anderen Rezensionen rauslesen, was mir den Sinn näher gebracht hätte ^^