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Dienstag, 7. Mai 2024

[2. Trilogie] Erdsee von Ursula K. Le Guin

Tenar, die geflohene Priesterin aus den Gräbern von Atuan, hat sich auf der Insel Gont niedergelassen. Sie adoptiert Therru, ein Mädchen, das ein schlimmes Schicksal erlitten hat und dem bestimmt ist, entscheidend in die Geschicke von Erdsee einzugreifen. Als Ged, einstiger Erzmagier und am Ende von »Das letzte Ufer« seiner magischen Kräfte beraubt, nach Gont zurückkehrt, schließt er sich der Dorfgemeinschaft an, und zusammen mit Tenar sorgt er für Therru, um sie vor dem bösen Zauberer Aspen zu schützen.

Bald verflicht sich ihr Schicksal mit dem des jungen Dorfzauberers Erle. Dieser wird von Albträumen geplagt, in denen ihn die Toten im Dunklen Land jenseits der Mauer anrufen und auffordern, sie in die Welt zurückzuholen. Auf der Suche nach Deutung dieser Träume und der Erlösung von ihnen führt Erles Weg über die Zauberschule von Rok, den ehemaligen Erzmagier Ged und an den Hof König Lebannens, wo er auch auf Tenar und Tehanu trifft. Gemeinsam mit den Drachen von Erdsee müssen sie versuchen, ihre Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen …




Erdsee von Ursula K. Le Guin


Die zweite Trilogie in der Neuauflage:
 ›Tehanu‹, ›Geschichten von Erdsee‹, ›Der andere Wind‹
neu übersetzt von Karen Nölle, Sara Riffel, H.-U. Möhring
Genre Low Fantasy

Verlag Fischer TOR --- Seitenzahl 746
1. Auflage im Original im Jahr 1990 / 2001




Meine Meinung
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Tehanu
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Nach den ersten drei Büchern über das Inselreich Erdsee sind fast 20 Jahre vergangen, bis die Autorin die weiterführende Geschichte erspüren konnte, die Entwicklung von Arha, dem kleinen Mädchen aus den Gräbern von Atuan, gerettet vom Erzmagier Sperber und schließlich Witwe mit zwei erwachsenen Kindern auf einem einsamen Hof in den Hügeln von Gont. 

Diese Geschichte ist eine sehr ruhige, die die alten und schwachen, aber auch jungen und ausgestoßenen Menschen im Fokus hat. Während Tenar versucht, das geschändete und mit Narben übersäte Kind Therru aufzuziehen, sie in ihrer Seele zu heilen und ihrem Leben einen Sinn zu geben, trifft sie nach langen Jahren wieder auf Ged, der seine Magie völlig verloren zu haben scheint - und mit ihrer Macht auch sich selbst. 

Es gibt hier viele philosophische Gedankengänge in den Gesprächen der Figuren, aber auch im Handeln und Denken jeder Tat, so dass es eine sehr intensive und unaufgeregte Leseerfahrung war. Die mir aber sehr gefallen hat. Keine typische Fantasygeschichte, erst recht kein Heldenepos wie man es oft gewohnt ist, sondern mit den verborgenen, den stillen Helfern und Heilern, die kaum erkannt die oft die wichtigeren Rollen spielen. 
Die Autorin hat im Nachwort erklärt, dass 1990, als das Buch erschien, von vielen das Fehlen eines strahlenden Helden bemängelt wurde - denn Frauen als heroische Figuren scheinen damals noch nicht wirklich in der Fantasywelt angekommen zu sein. Vor allem keine, die ein so alltägliches Leben und Denken führen wie unsere Tenar hier. Aber gerade diese Stärke, in der Einsamkeit und mit vielen Zweifeln geprägt zu sein, allem zum Trotz weiterzumachen, einfühlsam zu sein und die Liebe denen zukommen zu lassen, die niemanden sonst haben, zeugt gerade von wahrer Größe. 

Auch das Thema "Macht" wird oft angesprochen. Natürlich die Macht der Magier - aber auch die Unterschiede von Männern und Frauen, in ihrem Denken und Fühlen, in ihrem Leben ... ohne ein Urteil, sondern mit vielen Denkanstößen, die tiefer gehen als man im ersten Moment ahnt.

"Ich bin schon recht alt, um ein Kind aufzuziehen. Und sie ... sie gehorcht mir, aber nur, weil sie will."
"Eine andere Rechtfertigung für Gehorsam gibt es nicht", bemerkte Ged.
Seite 182 

"Was sich nicht wiedergutmachen lässt, muss überwunden werden."
Seite 220



Geschichten von Erdsee
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Nachdem Tehanu die letzte Geschichte aus Erdsee sein sollte, kehrte die Autorin nach einigen Jahren wieder in ihr vertrautes Inselreich zurück, das ihr teilweise auch wieder fremd erschien. Viele Veränderungen ergeben sich von selbst mit der Zeit und so hat hier fünf Geschichten gesammelt, die aus der Vergangen bis ins Jetzt führen.

Der Finder
In alter Zeit, als die Magier noch eher gefürchtet als geachtet waren und mit ihrem Wissen hofieren gingen um Macht und Ruhm zu erreichen, wurde der Junge Otter mit seinen Gaben versteckt, um keine Aufmerksamkeit und damit Ächtung hervorzurufen. Otters Sinn für Gerechtigkeit bringt ihn allerdings in arge Schwierigkeiten.
Eine Sage über Gier, Herrschaft und die Missstände, die sich daraus ergeben - und die hilflose Angst, alleine zu sein, dem gegenüber zu stehen und nichts ausrichten zu können. Dabei ist man nie wirklich allein...

Will einer Gutes tun, so läuft er stets Gefahr, die guten Absichten mit dem Wunsch zu verwechseln, alles richtig zu machen.
Seite 311

Die längste Geschichte der Kurzgeschichten in Band 5, in dem die Gründung der Magierschule auf der Insel Rokh erzählt wird.

Schwarzrose und Diamant
Gülden ist ein sehr reicher Händler, ehrgeizig und arrogant. Von seinem Sohn Diamant hofft er, dass er in seine Fußstapfen tritt und das Geschäft übernimmt - doch als er seine magische Begabung erkennt, ist eine Zukunft als Magier auch nicht zu verachten.
Für Diamant stehen allerdings viele Wege offen und die Entscheidung fällt schwer, welchen er wählen soll.

Die Knochen der Erde
Der alternde Magier Tang lebt zurückgezogen auf Re Albi, als ein neuer Schüler bei ihm eintrifft. Hier lernen wir die Vergangenheit eines "alten Bekannten" aus den vorherigen Geschichten kennen.

Im Hochmoor
Im einsamen Hochmor auf der Insel Semel klopft eines abends ein Fremder an die Tür von Gabe. Er scheint ein Heiler zu sein, wirkt aber zeitweise verwirrt. Hier empfand ich Gabes Einfühlungsvermögen und Sicht auf die Menschen einfach nur herzerwärmend. Ihr Verständnis für Menschen, denen es schlecht ergeht ist einfach nur bewundernswert und hat großen Vorbildcharakter. 
Auch wird aufgeklärt, wer der geheimnisvolle Fremde ist - und damit auch dass sich jeder zu jeder Zeit ändern kann.

Libelle

Auf der Insel Wey lebt Libelle, vereinsamt und rebellisch will sie herausfinden, wer sie wirklich ist. 
Der Zauberer Elfenbein hilft ihr nur zum Schein, den im tiefsten Inneren ist er verbittert und möchte einfach nur das Leben genießen, allerdings ohne Konsequenzen.
Hintergrund hier sind alte Traditionen und Vorurteile. Wunderbar integriert und in die Geschichte und mit vielen philosophischen Ansätzen. 
Sehr schön auch hier wieder die Kraft der Stille. Zu schweigen und nicht alles mit Worten "totzureden" und einfach mal zu lauschen: nach außen und nach innen. Das kommt immer wieder vor und sorgt schon beim Lesen für Entschleunigung :)

Für noch mehr Verständnis der Geschichten sollte man das Nachwort lesen. Um mehr über Erdsee herauszufinden, ist die Autorin hier weit in die Vergangenheit gereist, um für sich selbst die Zusammenhänge zu erkennen, die zu den gegenwärtigen Entwicklungen geführt haben - aber auch um zu erspüren, wie es weitergeht. 
Moral, Gleichgewicht, Entscheidungen, Vorurteile, Macht und ihre Verantwortung und vor allem: das einzig beständige auf der Welt, die Veränderung, sind hier zentrale Themen. 

Mit der letzten Geschichte knüpft sie schließlich die Verbindung zum letzten Band:


Der andere Wind
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Mit diesem abschließenden Band hat die Autorin ein wundervolles Ende dieser Geschichte geschaffen, die sich, wie sie selbst sagt, nicht in die einzelnen Teile zersetzen lässt, sondern ein großes Ganzes ergibt.

Ein Fremder erreicht Gonthafen um den ehemaligen Erzmagier aufzusuchen und um Rat zu bitten. In den Träumen wird er von den Toten aus dem Totenreich aufgesucht, vom dürren Land, das wir aus früheren Geschichten kennen und das durch eine Mauer vom Land der Lebenden getrennt ist. Wir wissen, dass sich schon seit längerem eine Veränderung anbahnt und um diese geht es hier, und wie die Spaltung wieder vereint werden kann. 
Recht viel mehr kann ich gar nicht verraten ohne zu Spoilern. Aber einige Gedanken möchte ich gerne loswerden, die mit den Themen zu tun haben, und die mir beim Lesen durch den Kopf gegangen sind:

Das dürre Land wird ja schon früher erwähnt, schon im ersten Band, aber erst jetzt fiel mir die Ähnlichkeit zum dritten Band der Trilogie von Philip Pullman auf. Die unsterbliche Seele ist hier ja ebenfalls Thema und auch hier geraten die Verstorbenen in ein "totes Land", in dem nichts geschieht, alles düster ist und still steht. Vor allem die Erlösung und Freiheit der Seele durch das Loslassen spiegelt sich hier wider - und die damit erst verbundene Chance, sich wieder mit allem zu vereinen.

Interessant war hier die Erwähnung einer Entscheidung, die zu "gut und böse" führt, was mich sofort an Adam und Eva mit ihrem sprichwörtlichen Apfel erinnert hat. Aber auch der Vergleich mit den Drachen als Tiere, bzw. überhaupt Tieren und was uns von ihnen unterscheidet war sehr spannend. Können wir wirklich gut und böse handeln, während die Tiere "einfach nur sind"? Oder handeln wir nicht auch einfach nur instinktiv und unbewusst aufgrund unserer Erfahrungen? Ein geschlagener Hund wird schließlich auch oft bissig ...  oder ist es die Lüge, mit der wir uns die Krone aufgesetzt haben?

Menschen und Drachen waren vor langer Zeit eins. 
Die Drachen entschieden sich schließlich für das Feuer und den Wind -> die Freiheit -> das Loslassen
Die Menschen entschieden sich für Erde und Wasser -> die Bindung -> das Behalten

Beides trägt etwas positives in sich und hat auch seine Schattenseiten, aber ich weiß, welche Erleichterung es sein kann, nicht alles besitzen zu wollen - und anderen ihre Freiheit zu lassen uns auch selbst Freiheit schenken kann. 

Das zentrale Thema hier ist tatsächlich der Tod, und damit die Wiedergeburt und vor allem: das Leben. 
Ebenso die alte Sehnsucht nach dem ewigen Leben und die Angst vor dem Tod. 
Doch wäre so ein ewiges Leben wirklich erstrebenswert? Die Aussage, dass wir, wenn wir diese Welt verlassen, all unsere unausgeschöpften Möglichkeiten und nicht getroffenen Entscheidungen weitergeben an die nächstgeborenen Seelen fand ich wunderschön! 

Mit viel Feingefühl habe ich hier schöne, gefühlvolle Momente erleben dürfen, ebenso wie beängstigende Erkenntnisse gehabt, die wieder zum Nachdenken anregen. Eine wundervolle Reihe die gerade durch ihre ruhige Art zum Innehalten inspiriert und aus der Hektik des Alltags entfliehen lässt.
Ich bin einfach nur begeistert :)


Im Anschluss gibt es noch zwei Kurzgeschichten, die noch eine schöne Ergänzung waren.


Mein Fazit
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Man merkt hier einen anderen Stil, als den man heutzutage in dem Genre gewohnt ist - und ich bin davon sehr begeistert! Auch wenn man die Welt kennenlernt lenkt sie den Fokus auf die jungen Protagonisten, die anfangs in ihren bisherigen Erfahrungen feststecken und erst durch neue Wege und Begegnungen lernen, ihre Sicht über den Tellerrand zu heben. Im Laufe der Reihe werden sie erwachsen, sie altern und verändern sich durch ihre Erfahrungen.
Dazu kommen wichtige Themen zur Gesellschaft und dem Leben an sich: Einfühlungsvermögen, Akzeptanz, Vergebung, Hoffnung, Tod - alles eingebettet in eine großartige magische Welt von Erdsee und einer Spannung, die ohne Action oder blutrünstige Kriege auskommt. 


Meine Bewertung
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Die erste Trilogie
 ›Ein Magier von Erdsee‹, ›Die Gräber von Atuan‹, ›Das fernste Ufer‹


2 Kommentare:

  1. Den ersten Band habe ich auch. Ich habe aber auch die uralte TB Ausgabe und wenn ich das mal rereade, sicher in der TB Ausgabe, damit diese wunderschönen Ausgaben keinen Makel bekommen.

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    1. Da hätte ich auch gerne die alten Originale gehabt, aber die Neuausgabe hat sich jetzt einfach angeboten :) Wirklich eine grandiose Fantasyreihe! <3

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