Freitag, 17. August 2018

Rezension: VOX von Christina Dalcher

Vox

von Christina Dalcher

übersetzt von: Marion Balkenhol, Susanne Aeckerle
Genre: Dystopie
Setting: Amerika

Verlag: S. Fischer
Seitenzahl: 400
Hardcover: 20 €
Ebook: 6,99 €

1. Auflage: Aug 2018






Verlagsinfo

Als die neue Regierung anordnet, dass Frauen ab sofort nicht mehr als hundert Wörter am Tag sprechen dürfen, will Jean McClellan diese wahnwitzige Nachricht nicht wahrhaben – das kann nicht passieren. Nicht im 21. Jahrhundert. Nicht in Amerika. Nicht ihr.

Das ist der Anfang.

Schon bald kann Jean ihren Beruf als Wissenschaftlerin nicht länger ausüben. Schon bald wird ihrer Tochter Sonia in der Schule nicht länger Lesen und Schreiben beigebracht. Sie und alle Mädchen und Frauen werden ihres Stimmrechts, ihres Lebensmuts, ihrer Träume beraubt.

Aber das ist nicht das Ende.

"Denk darüber nach, was du tun musst, um frei zu bleiben. 
Tja, mehr zu tun als rein gar nichts, hätte ein guter Anfang sein können." Pos 354


Das denkt sich Jean, die mit ihrem Mann und vier Kindern in den USA lebt. Einem Land, dass sich binnen weniger Wochen in ein schreckliches Gefängnis verwandelt hat. Die Frauen, wortwörtlich mundtot gemacht, sollen sich wieder an ihre von Gott zugedachte Rolle gewöhnen. Putzen, kochen, Kinder kriegen und dem Mann gefällig sein und nur ja keine Widerworte geben.

Als ich zum ersten Mal von dem Konzept zur Handlung gelesen habe, hab ich mich gefragt: mit welcher Begründung wird die Autorin wohl diese abstruse Maßnahme begründen, dass den Frauen tatsächlich verbietet zu sprechen? Der Glaube bzw. ein religiöser Hintergrund war da am leichtesten einzusetzen. Zum einen, weil einfach grundsätzlich - und auch heute noch - viel reininterpretiert und fehlinterpretiert wird an den vielen Auslegungen von Glaubenstexten, zum anderen ist es an sich egal, welche Begründung dahinter steckt: die Herde ist viel zu leicht zu lenken. 

Das zeigt gerade auch das Zitat, das ich oben erwähnt habe. Denn Jean wurde relativ früh darauf hingewiesen, dass sich in der Politik etwas tut, etwas, dass in eine völlig abstruse Richtung läuft, aber Jean, und da geht es ihr sicher wie vielen von uns, konnte einfach nicht glauben, dass das tatsächlich Realität werden würde. Das Aufwachen geschah zu spät und jetzt steckt sie mit all den anderen Amerikanerinnen fest in einem Land, in dem Frauen so gut wie keine Rechte mehr haben. 
Jean hat vier Kinder, davon drei pubertierende Söhne und eine 6jährige Tochter, Sonia. Gerade ihr Schicksal macht Jean zu schaffen, denn wie sehr sie sich auch sträubt, sie muss der Kleinen beibringen und einimpfen, ja nicht zu viel zu sprechen. 
100 Wörter sind nichts wenn man bedenkt, wie viel jeden Tag gesprochen wird. Wie wichtig es ist, sich auszutauschen, sei es wörtlich, in der Gebärdensprache, schriftlich oder in welcher Form auch immer: der Austausch mit anderen und die Möglichkeit, sich anderen mitzuteilen, ist nunmal grundlegend in unserer Gesellschaft. Aber auch die Jungs sind einem sehr prägenden Bild ausgesetzt und ich hab mich immer gefragt, welches Frauenbild sie wohl von einer Mutter haben, die "nichts zu sagen hat".

"Schließlich wird von meiner Tochter erwartet, eines Tages einzkaufen und einen Haushalt
zu führen, eine ergebene und pflichtbewusste Ehefrau zu sein. Dafür braucht man Mathematik,
keine Rechtschreibung. Keine Literatur, keine Stimme." Pos 150

Erzählt wird das ganze aus Jeans Perspekive im präsens. So kann man ihren Gefühlen teilhaben, an der Wut, der Ohnmacht und auch dem Trotz, der sich immer wieder Bahn bricht. Es gibt immer wieder Momente in denen sie zurückblickt auf die Anfänge, auf die Entwicklung, was alles logisch ineinander aufgebaut ist. 
Ein paar kleine Unstimmigkeiten gab es, die mich irritiert haben, die insgesamt aber nicht wirklich ins Gewicht gefallen sind.

Ich hab in einer Kurzmeinung gelesen, dass es in der zweiten Hälfte zu wissenschaftlich wurde, was ich aber gar nicht so aufgefasst habe. Es fallen einige Fachbegriffe, die ich nicht alle zuordnen konnte, die man aber im Kontext durchaus versteht und sich meist von selbst erklären. Ob die alle stimmig sind weiß ich nicht und man hätte es durchaus auch "verständlicher" umschreiben können, aber es hat einfach zum Umfeld und zur jeweiligen Situation gepasst.
Gerade über die Wernicke Aphasie gibt es einige interessante Details. Ich hab noch nie davon gehört, aber die Autorin erklärt es in einem kurzen Interview am Anfang des Buches (ich würde allerdings raten, es erst nach der Geschichte zu lesen, um Spoiler zu vermeiden). Diese Aphasie kann nach einem Trauma auftreten, bei dem der Patient zwar Sprechen kann, also richtige Wörter, diese aber in keinem Zusammenhang stehen. Das wird auch in der Handlung relevant, aber dazu möchte ich noch nichts verraten. 

Es war jedenfalls beängstigend zu sehen, wie sehr hier in die verschiedenen Lebensbereiche eingegriffen und wie subtil aber sorgfältig alles umgesetzt wird.  
Bezeichnend fand ich auch, dass mit die Grundlage der Staatsoberhäupter war, dass es in der heutigen Zeit keine Unterschiede mehr zwischen Mann und Frau gibt. Die (von Gott oder wem auch immer) festgesetzte Ordnung des arbeitenden Mannes und der heimischen Frau ist außer Kontrolle geraten und die Männer (viele, einige, alle?) können und wollen damit nicht mehr umgehen. Männer werden zu weich und ihrer Stärke beraubt, während Frauen sich mehr und mehr in die Berufung der Männer drängen und damit ihrer Berufung berauben. 
Tja, natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, dazu muss man sich ja nur ihre Anatomie anschauen - aber das heißt ja nicht, dass ich ein Geschlecht in eine Rolle drängen muss oder auf irgendeine Art und Weise beschneide, dass derjenige kein selbstbestimmtes Leben führen kann. 

Bei selbstbestimmtem Leben kommt man unwillkürlich auf den Begriff der Freiheit (hier muss ich mich kurz selbst bremsen, sonst schreibe ich selbst hier noch einen Roman), aber natürlich ist das hier auch ein wichtiger Punkt.

Was alles würdest du tun, um frei zu sein?

Pauschal kann man das nicht beanworten - um welche Einschränkungen geht es und welche Definition von Freiheit - doch ja, es gibt sicher Situationen, in denen wir töten würden. Jeder von uns. Nein, wahrscheinlich nicht jeder, aber wenn ein Familienanghöriger bedroht ist, ein guter Freund, das eigene Kind, ich glaube, dass da sehr viele über ihre moralischen Bedenken hinweg kommen würden. 
Gar nichts zu tun, alles laufen zu lassen, so wie es in dieser Gesellschaft gelaufen ist, bringt meist nichts gutes. Hier hat die Autorin ein schönes Zitat von Edmund Burke eingeflochten:

Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun!

Ich hatte, wie oben bemerkt, bei ein paar Kleinigkeiten Probleme, es logisch nachzuvollziehen und hab auch zwischendurch nicht alles nachempfinden können, aber die Thematik ist wirklich sehr eindringlich und deutlich umgesetzt, mit einer sehr flüssigen und spannenden Schreibweise, dass ich durchweg gefesselt war und das Buch nicht aus der Hand legen wollte.

Meine Bewertung

http://blog4aleshanee.blogspot.de/search/label/4%20Sonnen


© Aleshanee
 Vielen Dank an den Verlag und NetGalley für das Rezensionsexemplar.
 Es gab diesbezüglich keinerlei Vorgaben und die Rezension 
spiegelt meine ganz persönliche Meinung wider.


Ebenfalls rezensiert von

Tintenhain
Books on Fire 4/5
Booknerds by Kerstin 5/5


Über die Autorin: Christina Dalcher pendelt zwischen den Südstaaten und Neapel. Die gebürtige Amerikanerin, zu deren Helden Stephen King und Carl Sagan zählen, promovierte an der Georgetown University in Theoretischer Linguistik und forschte über Sprache und Sprachverlust. Ihre Kurzgeschichten und Flash Fiction erschienen weltweit in Magazinen und Zeitschriften, u.a. wurde sie für den Pushcart Prize nominiert. »Vox« ist ihr Debütroman.
Quelle: Fischer Verlag

21 Kommentare:

  1. Hey Aleshanee,

    vielen Dank für diese schöne Rezension.
    Ich habe das Buch für nächsten Monat auf meiner Wunschliste und bin schon gespannt, wie es mir ergehen wird. Wenn es zu fachlich wird hab ich meist auch so meine Schwierigkeiten...

    Liebe Grüße
    Charleen

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    1. Zu fachlich wird es nicht meiner Meinung nach. Es tauchen schon einige Begriffe auf, aber die kannst du getrost überlesen bzw. ergibt sich der Sinn meist aus dem Kontext ;)
      Dann wünsch ich dir viel Spaß!

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  2. Hey Alex!

    Ich hab es ja schon auf FB gesagt, dass ich das Buch zurzeit überall sehe und immer neugieriger werde. Ich stelle es mir schwer vor aus unserer aktuellen Zeit, in der die Frauen mehr als 100 Wörter sagen dürfen und wir alle selbstbestimmt leben können, wieder in eine Zeit zurückzukehren, in der eine Frau "nichts zu sagen hat". Ganz ehrlich, ich kann es mir nicht vorstellen. Alleine deswegen werde ich dieses Buch lesen und ich bin wirklich gespannt, was die Autorin aus dem Gedankenansatz gemacht hat. Danke für die tolle Rezension!

    LG
    Tilly

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    1. Ich konnte mir auch ganz schwer vorstellen, wie die Autorin das umsetzen wollte, vor allem dass es nachvollziehbar ist. Aber das hat sie echt gut gemacht. Die Gesellschaft lässt sich einfach gerne "führen" und mitreißen, das ist wohl einfach ein Massenphänomen, das wir ja zur Genüge aus der Vergangenheit kennen ...
      Ich bin gespannt, was du dazu sagen wirst!

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  3. Hey Aleshanee,
    das Buch sehe ich überall und das Thema finde ich sehr interessant! Es erinnert mich ansatzweise an Atwoods Roman "Der Report der Magd", in dem Frauen auch nur auf bestimmte Bereiche reduziert worden sind. Das Buch fand ich grandios, deshalb interessiert mich "VOX" auch sehr. Habe es mir vor paar Tagen als Hörbuch geladen. Mal sehen, wie es mir gefallen wird. Deine Rezi finde ich sehr gelungen.
    GlG, monerl

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    1. Jap, vom Thema her haben die beiden Bücher auf jeden Fall etwas gemeinsam, wobei man sie nicht vergleichen kann - denke ich. Ich hab leider kaum mehr Erinnerung an "Der Report der Magd". Das hab ich zwar gelesen, ist aber schon eine kleine Ewigkeit her ;)
      Vielen Dank für das Kompliment <3
      Ich wünsch dir viel Spaß beim Anhören!

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  4. Hi Aleshnee,
    mich hat es, wie monerl eben schon schrieb,auch spontan an den Report der Magd erinnert (ein Buch, das ich angefangen, aber noch nicht beendet hab).
    Das Thema von Vox ist wirklich grauenhaft, wenn ich mir das vorstell, zieht sich in mir schon alles zusammen, was für eine fürchtliche Vorstellung!
    LG
    Daniela

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    1. Das ist sicher richtig, dass das Grundthema dem Report der Magd ähnelt, die Umsetzung ist aber völlig anders gestaltet und kann man meiner Meinung nach nicht vergleichen ...
      Ja, die Vorstellung ist wirklich gruselig - vor allem, wie schnell und einfach sowas tatsächlich vonstatten gehen könnte. Denn ich denke, so weit hergeholt ist das gar nicht

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  5. Ich fand das Thema sehr spannend und vor allem interssant, wie schnell so etwas passieren kann und wie aktuell das Thema ist. Die Umsetzung konnte mich allerdings weniger begeistern und Bezüge zu Orwell (habe ich irgendwo gelesen) halte ich im literarischen Sinne für weit hergeholt.

    Liebe Grüße,
    Mona

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    1. Ich finde auch, das gruselige ist die Umsetzung des ganzen und wie sich das so nach und nach einschleicht - und wie das die Menschen verändern kann, langsam aber stetig. An sich wie eine Gehirnwäsche, aber dass sowas funktioniert wissen wir ja leider.

      Ohhh, mit Orwell würde ich das auch keinesfalls vergleichen *lach* Da liegt schon einiges dazwischen :D An sich find ich es aber schon sehr prägnant umgesetzt, auch wenn ich manche Details ebenfalls etwas kritisch gesehen hab.

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  6. Hallo Alex,

    man was für eine fiese Geschichte......echt zum Gruseln...oder?

    Ich hoffe, sie liefert niemanden irgendwann mal eine Steillage dazu....

    LG..Karin...

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    1. Steillagen gibt es sicher zur Genüge - ich denke eher und hoffe, dass es die Menschen aufrüttelt mehr auf Zeichen zu achten, wenn sich (mal wieder) so etwas anbahnt ...

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  7. Danke für die coole Rezension.

    Klingt sehr spannend und ein bisschen nach The Handmaid's Tale von Margaret Atwood.

    Liebe Grüße!

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    1. Gerne <3

      Den Vergleich hab ich jetzt schon von einigen gehört - ich hab den Report der Magd gelesen, ist aber schon sehr lange her und ich kann mich kaum noch an die Handlung erinnern ... aber vom Gefühl her: ja die Thematik ist ähnlich, aber vom Aufbau, Schreistil etc. her ist es ganz anders.

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  8. Hallo Alex,
    ich habe deine Rezension in meiner verlinkt. Ich hoffe, dass das für dich ok ist. :)

    Ich finde die Thematik des Buches toll und der Anfang ist echt gelungen. Aber das Ende... :/ Leider. Dabei bietet das Buch allerdings wirklich viel Diskussionsstoff.
    Hab noch einen schönen Sonntag!
    Sabrina

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    1. Natürlich! Vielen Dank :)

      Das Ende? Hm, ich fand das jetzt ehrlich gesagt nicht so schlimm - es ging halt irgendwie alles recht fix zum Schluss. Aber ich hatte auch nicht mehr erwartet. Das Thema ist natürlich sehr brisant und die Umsetzung "massentauglich" würde ich mal sagen ...

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  9. Hallo Alex,

    dieses Buch spricht mich von Klappentext her sehr an. Ich werde es auf jeden Fall auch noch lesen. Jedoch habe ich bei vielen Büchern auch meist das Problem die Charaktere oder andere Handlungsstränge nicht nachvollziehen zu können, aber hoffe ich einfach mal, dass es bei diesem Buch nicht der Fall sein wird :)

    LG Emily von Mein Schreibtagebuch

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    1. Hm, doch, trotz dem Thema kann man tatsächlich fast alles nachvollziehen. Klar gibts kleine Haken, aber da müsste man dann viel mehr ins Detail gehen, was bei der Kürze von dem Buch gar nicht möglich ist.
      An sich fand ich es aber insgesamt schon stimmig.

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  10. Hallo Aleshanee,

    ich habe dieses Buch am Wochenende gelesen und konnte es ebenfalls kaum aus der Hand legen. Ich fand es sehr fesselnd und gleichzeitig erschreckend. Meine Bewertung liegt auch bei vier Sternen, da ich mir ein etwas stärkeres Ende gewünscht hätte. Dieses war etwas zu abrupt und ein paar Fragen bleiben offen. Doch ingesamt hat es mir auch sehr gut gefallen. :)

    Liebe Grüße
    Nicole

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    1. Ja, ich fand auch dass es wirklich sehr fesselnd war!
      Ein paar kleine Sachen waren für mich jetzt auch nicht so passend und das Ende ging schon etwas fix. Aber insgesamt war es schon gut umgesetzt für das Thema!

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  11. Hey :)

    Ich bin gestern jetzt gerade mit dem Buch fertig geworden und bin im Moment noch unschlüssig, wie ich es bewerten soll. Denn der Anfang ist großartig, verdient problemlos 5 Sterne - und dann sackt das Buch zum Ende hin eigentlich total ab. Besonders der Schluss ist meiner Meinung nach einfach nur überhastet runtergeschrieben, als ob die Autorin eine Deadline gehabt hätte ... Das tut einfach nur weh irgendwie, vor allem weil das Thema so wichtig ist.

    Übrigens: Der Brief und das Interview sind nur in den Vorab-Leseexemplaren drin, nicht in der endgültigen Ausgabe ... Auch das ist irgendwie schade, denn eigentlich wäre das auch für den normalen Leser interessant zu sehen, was die Autorin sich beim Schreiben gedacht hat.

    Liebe Grüße
    Ascari

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