Sonntag, 17. November 2024

Friedhofskind von Antonia Michaelis

Friedhofskind von Antonia Michaelis


Genre Kriminalroman
Verlag emons
Seitenzahl 480
1. Auflage Januar 2014

Siri verbringt einen Sommer in einem kleinen Küstendorf, in dem vor dreißig Jahren unter mysteriösen Umständen ein Kind ertrank. Die Bewohner des Dorfes reden nicht gern darüber - genauso wenig wie über den Totengräber, der angeblich mit den Seelen der Verstorbenen spricht. Oder darüber, dass man sich gut mir ihm stellen sollte, wenn man die Toten nicht gegen sich aufhetzen will. Siri drängt tief in die dunklen Geheimnisse des Dorfes ein. Und stößt dabei auf das Unfassbare...




Meine Meinung
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Das war wieder einfach nur WOW! 
Die Autorin hat schon sehr viele Bücher geschrieben - und natürlich sind welche dabei, die jetzt nicht so ganz meinen Nerv treffen oder "einfach nur gut" sind - aber das hier hat mich schon wieder ganz schön an meinen Nerven gepackt - denn neben ihrem gewohnt genialen Schreibstil waren auch die Charaktere wieder großartig inszeniert, so dass man sie einerseits zu verstehen und mit ihnen mitzufühlen glaubt und andererseits zu undurchsichtig, als würde das Bild, dass man sich von ihnen macht, immer wieder wie Nebel zerfasern. Dazu die Geschichte um das ertrunkene Mädchen, die plötzlichen Todesfälle - und ein eingeschworenes Dorf auf einer Insel im Norden Deutschlands, die ihren Sündenbock gerne im Außenseiter suchen.

Siri Pechton ist 32 und reist in dieses namenlose Dorf, um die Fenster einer alten Kirche zu restaurieren bzw. neu zu entwerfen. Die erste Szene auf dem Friedhof, bei dem sie auf den Totengräber Lenz trifft, die Gerüchte im Dorf, das flüchtige Mädchen im blauen Kleid... die Autorin versteht es wunderbar, direkt die Atmosphäre aufzugreifen und sie immer tiefer wirken zu lassen. Eine surreale Atmosphäre, wie sie sehr oft in ihren Büchern vorkommt und mir vorgaukelt, wie alles sein soll und doch nicht ist. 

Während Siri also die Fenster entwirft und währenddessen versucht, hinter die Geheimnisse zu kommen, die überall lauern, fühlt sich Lenz in seiner Einsamkeit bedrängt. Er ist ein Kind im Körper eines Erwachsenen, er ist der Totengräber und er spricht mit ihnen, heißt es. Dabei flüchtet er sich nur in die Vergangenheit, an etwas, das ihn lebendig fühlen lässt zwischen all den Gräbern, all den Vorurteilen und ängstlichen Blicken. 

Anfangs scheint keine Annäherung möglich zu sein, doch Siri spürt die dunklen Schatten, die Lenz umgeben und möchte das Licht der Wahrheit ergründen, die dahinter lauern.

Sein Gesicht war nicht mehr so ... unschön. Nicht mehr so grob. Es war nicht schön, aber es war auch nicht mehr hässlich. Es war etwas, das man mögen konnte.
Zitat Seite 140

Ein wunderschönes Zitat, das für mich so viel aussagt! "Schönheit" liegt im Auge des Betrachters, wie auch viele andere Dinge. Aus welchem Blickwinkel man die Ereignisse betrachtet. 
Einen Menschen, den man mag, findet man immer schön, denn man spürt seine Ausstrahlung, seine Gutmütigkeit, seine Freude, seine vielen positiven Eigenschaften - da verschwimmt das optische, denn es ist bedeutungslos. 

Das gleiche spiegelt sich in in diesen Sätzen wider:

"Ich finde die Wahrheit heraus." Sie lauschte dem Satz nach. Er hörte sich gut an, wie aus einem Film, aber er stimmte gar nicht. Ich verwickle mich, wäre richtiger gewesen. Ich verstricke mich in Sichtweisen, denn die Wahrheit gibt es vielleicht gar nicht. Es ist eine Frage des Betrachters."
Zitat Seite 301

Ich denke, jeder kennt das Szenario, dass 10 Zeugen befragt werden, die alle das gleiche gesehen haben - und jeder erzählt es anders. Hier erzählen die Geschichte Siri und Lenz - und beide halten vieles zurück, ob aus Absicht, Unsicherheit oder versunkenen Erinnerungen... es ist ein gefährliches Spiel und beide wissen nicht, was sie dabei gewinnen können, oder verlieren. 

Die beiden Protagonisten sind der Mittelpunkt der Geschichte und ihre Gefühle und Gedanken haben mich sehr berührt, manchmal auch erschreckt - aber vor allem hat mich fasziniert, wie Antonia Michaelis diese beiden in Szene setzt und mich beim Lesen immer wieder Zweifeln lässt. 
Dazu die typischen Dorfbewohner, die viel Tratschen, aber wenn es darauf ankommt nicht wirklich den Mund aufbekommen. Schuldzuweisungen, Ängste, Isolation sind hier Themen und die immerwährende Suche nach Nähe, nach einem Menschen, der einen sieht, versteht und annimmt. 
Die seltsamen Todesfälle spielen aber auch eine große Rolle, bei denen nie so recht klar wird, wie das alles zusammenhängen könnte bzw. wer nun tatsächlich dahintersteckt. 

Der Schreibstil war für mich jedenfalls wieder ein absoluter Genuss, denn wie hier mit den Wörtern gespielt wird, wie sie eingesetzt werden, wie sie die Momente beschreiben, darin kann ich mich jedesmal bei ihr verlieren. Ich bin so gefangen in der Geschichte, dass ich alles um mich herum vergesse und das Buch nicht aus der Hand legen möchte. Meine Begeisterung hat man jetzt hoffentlich heraus gelesen, denn ich hab hier wieder eine äußerst berührende und höchst spannende Geschichte nahezu inhaliert.


Meine Bewertung
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