Lycidas von Christoph Marzi
Band 1 der Reihe Die uralte Metropole
Verlag Heyne
Seitenzahl 860
1. Auflage Dezember 2004
Als die kleine Emily eines Nachts Besuch von einer sprechenden Ratte erhält,
weiß sie, dass nichts in ihrem Leben so bleiben wird, wie es einmal war.
Nicht, dass sie ein gutes Leben in dem kleinen Waisenhaus in einem
Armenviertel Londons führen würde. Doch dass sie auf der Suche nach dem
Geheimnis ihrer Herkunft eine phantastische Stadt unter den Straßen Londons
entdecken würde und schon bald von den seltsamsten Wesen verfolgt wird – das
hätte sich Emily selbst in ihren kühnsten Träumen nicht ausgedacht.
"Alles ist möglich. Dies ist London."
Zitat Seite 45
Meine Meinung
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Was für ein großartiger Auftakt! Diese Reihe wollte ich schon vor Jahren lesen und erst jetzt bin ich dazu gekommen: endlich! Ich bin so begeistert und wirklich froh, dass ich mir
zwischendurch Notizen gemacht habe - ich wüsste sonst gar nicht, wo ich
anfangen oder wie ich diesen immensen Ideenreichtum der Geschichte in Worte fassen soll.
Es ist auf jeden Fall ein düsteres Setting, eine unheimliche Welt, die uns hier im Untergrund
von London begegnet: die Uralte Metropole und deren Hintergründe sind brutal und
voll mythischer Atmosphäre.
Der Ich-Erzähler ist Wittgenstein, ein Halbelf, der im heutigen London lebt
und uns die Ereignisse rund um das Waisenmädchen Emily Laing erzählt.
Das 12jährige Mädchen hatte kein schönes Leben bisher, denn das Waisenhaus Rotherhithe wird mit strenger Hand und Stockschlägen geführt. Ein Missgeschick hat sie vor
einigen Jahren sogar ein Auge gekostet, so dass sie ein Glasauge in ihrer
leeren Augenhöhle trägt und deswegen von den anderen Kindern verspottet und gehänselt
wird. Doch sie hat eine Freundin gefunden: Aurora, mit der sie alles leichter
ertragen kann und mit der sie die kleinen Freuden - aber vor allem die tiefen Abgründe besser durchgestanden hat und mit der sie alles teilt, was sie bedrückt.
Aurora selbst wird als "Schokoladenmädchen" ausgegrenzt und hat ihre ganz
eigenen fürchterlichen Erinnerungen, doch die Freundschaft mit Emily ist auch
für sie Überlebens wichtig und das schützt sie vor vielen Schrecken, denen sie
begegnen werden.
Als eine wolfsähnliche Bestie eines Nachts ein Kind aus dem Schlafsaal
stiehlt, überstürzen sich nämlich die Ereignisse, denn Emily gelingt es, aus dem
Waisenhaus zu fliehen - und verstrickt sich damit in Ereignisse, die ihre Welt
völlig auf den Kopf stellen.
Sie lernt die Uralte Metropole kennen, die Stadt unterhalb Londons, die die
vielen mythischen Wesen beherbergt, die sich in der Oberwelt unerkannt unter
uns Menschen bewegen. Lykanthropen zum Beispiel, also Werwölfe, Elfen,
Irrlichter, göttliche Wesen aus aller Welt, aber auch Engel und viele andere mehr. Manche
sind harmlos, doch einige auch gefährlich und brutal, was Emily am eigenen
Leib zu spüren bekommt.
Sehr witzig fand ich ja Mr. Fox und Mr. Wolf - dieses Duo hat mich total
an Mr. Wint & Mr. Kidd, das Auftragsmörder-Duo aus James Bond
"Diamantenfieber", erinnert :D
Christoph Marzi hat hier eine vielfältige und weitreichende Geschichte
entstehen lassen, die vielleicht etwas überladen wirken könnte, mich aber
völlig fasziniert hat. Er mischt so viele Legenden und Überlieferungen
zusammen, bringt Wissen über Kunst mit ein, Zitate aus der Literatur,
Heilkünste aus der Alchemie und Edelsteine, Okkultismus und andere legendäre
Gegenstände. Dabei fügt sich ein Puzzleteil zum anderen, so dass es am Ende ein stimmiges, wenn
auch opulentes Gesamtbild ergibt.
Manchmal wiederholt sich der Autor auch, aber ich hatte tatsächlich nie das
Gefühl, dass ich dadurch gelangweilt wäre, denn es rückte alles wieder in das
richtige Licht. Und da er auch oft in der Zeit hin und herspringt, war das
sogar oft auch hilfreich.
Die Zeit hier ist überhaupt so eine Sache, denn so wirklich kann Emily nicht
immer begreifen, wie die Ereignisse aus der Vergangenheit mit der Gegenwart
zusammenhängen. Überhaupt ist es sehr komplex und ich hatte das Gefühl,
Christoph Marzi packt hier alles an phantastischen Ideen aus allen möglichen
Quellen hinein, die ihm jemals begegnet sind. Und nur ein unlogisches Detail
hab ich dabei entdeckt, ansonsten hat sich alles absolut stimmig und schlüssig
ineinander gefügt.
Emily ist nämlich verstrickt in eine Fehde zweier alter Grafschaften und einem
erschütternden Ereignis, das sich scheinbar schon seit Jahrhunderten
wiederholt und auch jetzt wieder folgenschwere Auswirkungen hat. Manche Szenen
würde ich hier sogar fast als gruselig bezeichnen, und es gibt auch brutale
Momente, die aber auch schnell wieder vorübergehen. Der Autor hängt sich hier
nicht fest, sorgt aber schon für eine angespannte Stimmung, die eine konstante
Gefahr mit sich trägt.
[...] "denn die Hölle, das sollten Sie wissen, ist die Wiederholung."
Seltsam lächelnd hatte sie ergänzt: "Ja, die Wiederholung ist die Hölle."
Zitat Seite 74
"Die meisten Menschen leben in ihrer eigenen Hölle. Sie erschaffen sie
aus
freien Stücken." Eindringlich musterte ich das Mädchen. "Bedenken Sie, Miss
Aurora.
Kein Leid ist schlimmer als jenes, das man sich selbst zufügt. Und keine
Hölle
grausamer als jene, die man sich mit eigener Hände Kraft erbaut.
Zitat Seite 234
Emily selbst hab ich sofort ins Herz geschlossen, denn trotz ihrer
traumatischen Erlebnisse lässt sie sich nicht unterkriegen und steht für sich
und ihre Freundin Aurora ein. Natürlich ist sie misstrauisch und glaubt nicht
jedem, auch wenn sie so gerne endlich im Leben mal jemandem Vertrauen würde,
und kämpft immer wieder mit der Wahrheit und den Lügen und mit der Rolle, die
ihr hier zugewiesen wird.
Aber auch die anderen Charaktere sind interessant: Aurora, die trotz der innigen Verbundenheit auch gegensätzliche Charakterzüge zu Emily aufweist, Mortimer Wittgenstein, der
Mentor von Emily, Maurice Micklewhite, der verstoßene Elf, Dinsdale, ein ganz besonderer Helfer dem ich nicht vorgreifen möchte - und auch die "Bösewichte" und ihre Beweggründe und Intrigen, die man oft nicht ganz in schwarz und weiß einteilen kann, denn wie heißt es so schön: Nachts sind alle Katzen grau ;)
London lernen wir hier auf ganz unterschiedliche Weise kennen und sind oft mit
den U-Bahn Linien unterwegs, die zu Schnittpunkten führen, wo es in die
Unterwelt geht. Gerade wenn man schon mal in dieser Stadt kennt man viele
Gebäude und Stationen, das war ein schönes Wiedererkennen dieser wunderbaren
Stadt!
Ich mag auch die Floskeln sehr gerne, die der Autor immer wieder verwendet und Wittgenstein sehr oft davon Gebrauch macht: "Es gibt keine Zufälle", "Frag nicht" wenn eine unangenehme Frage auftaucht,
"Mit der Zeit ist das so eine Sache" und einige mehr. Sowas prägt sich einfach
ein und man spürt eine tiefere Verbindung zur Geschichte.
Jedenfalls müssen hier fast wortwörtlich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt
werden, um ein schreckliches Unheil zu verhindern - und auf diesem Weg dorthin
muss Emily Entscheidungen treffen, die alles von ihr fordern.
Es ist ein Auf und Ab der Gefühle - ein hin und her der Entdeckungen und Hoffnungen und das alles inmitten der großartigen Stadt London, die hier einen Schauplatz der Superlative bietet. Gegen Ende steigt die Spannung dann nochmal mächtig an und zwischen Intrigen, Verrat, Angst und Tod gibt es immer wieder die leise Hoffnung auf ein Happy End, das nicht für alle möglich ist.
Es fällt mir wirklich schwer in Worte zu fassen, wie diese Geschichte sich in mein Herz geschlichen hat, in meinen Kopf und meine Gedanken, denn nicht nur beim Lesen war ich in London untergetaucht, auch zwischendurch, wenn ich die Zeit überbrücken musste bis ich weiterlesen konnte, hab ich immer wieder daran gedacht, wie es wohl weitergeht.
Wie eingangs erwähnt ist das keine Sonnenschein Geschichte voller Wohlgefühl und Heiterkeit - sie besticht durch die Ernsthaftigkeit und authentischen Zweifel, prägnanten Figuren und einer verstrickten Handlung phantastischer Elemente, aber auch grausamen und verletzenden Momenten - die in einem großartigen Stil ausgeführt werden. Wie Christoph Marzi schreibt, so atmosphärisch und besonders, hat es mir besonders angetan, man möchte keine Zeile davon verpassen <3
Meine Bewertung
⚪൦⚪൦⚪൦⚪൦⚪൦⚪
Ich hab mir beim Lesen eine Menge Zitate markiert
"Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart", war ich fortgefahren, "der bedeutendste Mensch immer der, der einem gerade gegenübersteht, und das notwendigste Werk ist immer die Liebe."Zitat Seite 304"... Wir können den Augenblick nicht genießen, wenn wir uns vor der Zukunft fürchten. Wir können uns nicht auf unser Gegenüber konzentrieren, wenn die Vergangenheit wie ein schaler Beigeschmack unsere Sinne betäubt. Die Angst tötet das Vertrauen. Angst lässt uns nicht im Jetzt, sondern im Vielleicht leben. Letzten Endes lässt sie uns gar nicht leben."Zitat Seite 307Man muss lernen zu sagen, was man meint, denn sonst wird man niemals das meinen, was man sagt.Zitat Seite 420"Wittgenstein erklärte mir, dass die meisten Menschen Vampire sind. Sie stehlen dir Zeit und Kraft. Belästigen dich mit unwichtigen Dingen. Sind egozentrisch und fragen niemals nach dem Wohlbefinden der anderen."Zitat Seite 458"Man löst keine Probleme, indem man ihnen aus dem Weg geht."Zitat Seite 804Zufälle gibt es nicht.
Die Uralte Metropole
1 - Lycidas
2 - Lilith
3 - Lumen
4 - Somnia
5 - London
(3.5 Nimmermehr - zwei der Kurzgeschichten hier
spielen auf Ereignisse der Uralten Metropole an)
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